- Zukunftsbewältigung: Über die spontane Vernunft hinausdenken
- Zukunftsbewältigung: Über die spontane Vernunft hinausdenkenDie Menschheit steht heute vor immensen Herausforderungen: Exponentielles Wachstum der Bevölkerung und des Ressourcenverbrauchs, Umweltprobleme, Kriege, Migration und ungleiche weltweite Finanzströme sind Probleme, die weltweit Verhaltensänderungen verlangen. Bei pessimistischer Einschätzung scheinen diese Probleme das Überleben der Menschheit als Ganzes infrage zu stellen. Ihre Lösung wird deshalb zur Überlebensherausforderung.Welcher Fähigkeiten bedarf es, um diese Krise potenziell besser meistern zu können? Um diese Frage zu beantworten, ist es zunächst sinnvoll zu analysieren, warum es Menschen schwer fällt, mit diesen Problemlasten adäquat umzugehen.Problemlösefähigkeiten aus der SteinzeitEinen plausiblen Erklärungsansatz bietet dafür die Evolutionstheorie. Danach haben sich die Möglichkeiten, mit denen Menschen ihre Umgebung wahrnehmen und in ihr agieren, in Anpassung an die unmittelbare Umwelt und die sich daraus ergebenden Notwendigkeiten entwickelt. Die Menschheit ist damit vor allem an die Bedingungen der Steinzeit angepasst, der zeitlich längsten Periode der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Die genetische Ausstattung des Menschen für die sinnliche Wahrnehmung ist deshalb auf die Problemlösung im Nahbereich spezialisiert, die für die genannten globalen Probleme weitgehend ihre Funktion verloren hat. Nur die Dinge des menschlichen Mesokosmos werden als anschaulich wahrgenommen und lassen sich ohne künstliche Hilfsmittel erkennen, rekonstruieren, identifizieren und bewältigen. Anschaulich sind für Menschen Abstände und Zeiten, die zu Fuß zurückgelegt werden können, Gruppen von bis zu 150 Personen und Zusammenhänge, die sich in etwa 5—10 Unterprobleme (die Problemlösekapazität des Kurzzeitgedächtnisses) zerlegen lassen. Daher sind sehr kleine Abstände und kurze Zeiten, sehr große Entfernungen und Geschwindigkeiten sowie komplexe Systeme mit vielfältigen Beziehungen untereinander und Rückkoppelungseffekten für die meisten Menschen unanschaulich. Die Grenzen des menschlichen Mesokosmos sind nicht einheitlich, sondern schwanken aufgrund unterschiedlicher Sozialisation sowohl zwischen Individuen als auch zwischen Kulturen.Zudem waren Problemlösungen über Jahrtausende hinweg durch einen unmittelbaren Tat-Folge-Zusammenhang gekennzeichnet: Ein Tier greift an und Menschen fliehen oder verteidigen sich. Wer keine Nahrung finden oder für schlechte Witterungsperioden nicht vorsorgen kann, darbt oder verhungert. Wer in der Gruppe ausgleichend wirkt, ist beliebt und hat ein hohes Sozialprestige — sein Rat und seine Entscheidung werden gehört — und verfügt damit über Macht. Der Kontext, in dem Menschen heute leben, ist nur noch zum Teil so einfach und überschaubar. Gerade bei den globalen Problemen sind der unmittelbare Tat-Folge-Zusammenhang und die sinnliche Wahrnehmung verloren gegangen.Die Fixierung auf den Tat-Folge-Zusammenhang hat Konsequenzen für eine Reihe von Verhaltensweisen. So fällt der Umgang mit Wahrscheinlichkeiten und daraus resultierenden Handlungsentscheidungen schwer. Menschen fällen Entscheidungen vor dem Hintergrund bereits erlebter Entscheidungen und Erfahrungen. Neue Lerninhalte werden auf alte zurückgeführt oder von diesen abgegrenzt. Auch das Unbekannte hängt in der menschlichen Wahrnehmung als »Nichtbekanntes« strukturell mit dem Bekannten zusammen.Solange die soziale und ökologische Umwelt stabil ist, ist diese Verhaltensweise erfolgversprechend und rational; deshalb konnte sie sich auch über Jahrtausende stabilisieren. Problematisch ist, dass damit für neue Qualitäten keine Begriffs- und Vorstellungsmöglichkeiten vorhanden sind. Es fällt Menschen außerordentlich schwer, sich diese gedanklich vorwegnehmend vorzustellen. Im Umgang mit der Ökologiekrise — und damit einer sich sehr schnell verändernden Umwelt — ist diese Falle menschlicher Vernunft fatal: Nur weil sich die Wachstumsstrategie über Jahrtausende bewährt hat, glauben wir, dass sie sich auch weiter bewähren müsse. Das ist aber unwahrscheinlich. Es bereitet zudem große Schwierigkeiten, die Welt als ein vernetztes System zu erkennen und entsprechend zu agieren. Menschliche Erkenntnis verkürzt häufig spontan und unzulänglich auf lineare Ursachen und Wirkungen und berücksichtigt keine komplizierten Wechselwirkungen.Das alles bedeutet nun noch nicht, dass die genannten Probleme prinzipiell nicht bearbeitbar und damit lösbar wären. Menschen können durch Sprache und die damit verbundene abstrakte Reflexionsfähigkeit potenziell den sinnlich erfahrbaren Mesokosmos verlassen und über den unmittelbar erfahrbaren Tat-Folge-Zusammenhang hinausdenken. Durch Sprache und Nachdenken können sie lernen, mit diesen Begrenztheiten der »spontanen Vernunft« umzugehen und komplexe Probleme, die auf den ersten Blick nicht lösbar scheinen, zu verstehen und entsprechend zu lösen. Der Umgang mit komplexen Strukturen — wie der der Weltgesellschaft — ist somit im Prinzip möglich.Lernen als AuswegVor diesem Hintergrund kann nun die Frage wieder aufgegriffen werden, was Menschen lernen müssen, um die eingangs genannten Probleme zu lösen. Wie die Alltagserfahrung zeigt, gibt es durchaus Menschen, die mit komplexen und schwierigen Problemen gut umgehen können. Diese Alltagserfahrungen werden durch psychologische Untersuchungen bestätigt und analysiert. Welche spezifischen Fähigkeiten haben Menschen, die komplexe Probleme lösen können?Erfolgreiche Problemlöser zeichnen sich vor allem durch »mehr Nachdenken und weniger Machen« aus. Sie spielen Handlungsfolgen im Kopf durch, ohne real alle Möglichkeiten auszuprobieren. Diese Personen entwickeln viele Entscheidungen für eine geplante Handlung und handeln damit komplex. Sie lassen sich nicht von ihrer Arbeit ablenken, erkennen Probleme früh und überprüfen Entscheidungen häufig durch Nachfragen, insbesondere durch »Warum«-Fragen. Erfolgreiche Problemlöser strukturieren ihr eigenes Verhalten und reflektieren es, delegieren wenig Verantwortung und verfügen über ein gutes Zeitmanagement. Sie verfügen nicht unbedingt über ein besonderes Fachwissen, aber meist über ein sehr breites Allgemeinwissen und einen großen Vorrat an Strukturprinzipien, die an viele Problemkonstellationen Anschlussmöglichkeiten bieten. Erfolgreiche Problemlöser können außerdem Unbestimmtheiten ertragen; sie haben eine reflektierte Selbstsicherheit bei wenig Angst.Die evolutiv bedingte spontane menschliche Problemlösefähigkeit kann also durch kognitive Abstraktionsleistungen vor allem in Bereichen, in denen nicht alleine der Wissensbestand, sondern die Fähigkeit zum Denken und zur Selbstreflexion wichtig ist, weitgehend kompensiert werden. Diese Fähigkeiten können erlernt werden. Eine Grundaufgabe im Rahmen von Bildung sollte es daher sein, in abstraktes Denken einzuführen und dieses zu üben. Es muss geübt werden, kognitive Erkenntnis sinnlicher Erfahrung vorauslaufen zu lassen. Die sinnliche Erfahrung des Menschen will bedient sein, muss aber gleichzeitig mit abstraktem Denken verbunden werden. Eine wichtige Form abstrakten Denkens, die häufig durch sinnliche Erfahrungen erst angestoßen wird, ist die Selbstreflexion. Lernprozesse, die Selbstreflexion eröffnen, erweitern häufig den Spielraum für Verhalten und ermöglichen damit einen flexiblen Umgang mit dem schnellen sozialen Wandel und den damit zusammenhängenden globalen Problemen. Lernprozesse müssen so strukturiert werden, dass gelernt wird, Fragen zu stellen, Entscheidungen zu treffen und das eigene Vorgehen zu planen.Neben dem Bildungssystem, das es uns ermöglicht, diese für das Überleben der Menschheit so wichtigen Fähigkeiten zu erlernen, sind es die Wissenschaften, welche die abstrakte Reflexionsfähigkeit erproben und für gesellschaftliche Problemlösungen nutzbar machen. Bildung und Wissenschaft sind deshalb für die Vermittlung komplexer Problemlösefähigkeiten angesichts der globalen Herausforderungen unverzichtbar.Durch Sprache und die damit verbundene abstrakte Reflexionsfähigkeit können Menschen die Grenzen ihrer »spontanen Vernunft« ausweiten und sich damit potenziell an die heutigen ökologischen Probleme anpassen. Allerdings wird hierzu Lernen auf der Ebene der Individuen nicht ausreichen. Auch Gesellschaften müssen »umlernen« und Regelsysteme schaffen, deren Abstraktheitsgrad den komplexen Strukturen der Weltgesellschaft angepasst ist. Nur bedarf es dazu wiederum Individuen, die gelernt haben, sich in solchen Gesellschaften zu bewegen.PD Dr. Annette Scheunpflug, Hamburg
Universal-Lexikon. 2012.